Online-Veranstaltung zu mehr Biodiversität im Getreideanbau

Über heterogene Populationen, Proteinqualität und dezentrale Strukturen

„Biodiversität und Backqualität“ – unter diesem Titel stand eine von der AbL NRW organisierte Online-Veranstaltung mit Fachvorträgen von Dr. Carl Vollenweider, ökologischer Getreidezüchter vom Dottenfelderhof, und Anke Kähler, Vorstandsvorsitzende Die Freien Bäcker e. V. Die Veranstaltung illustrierte, wie eng Agrobiodiversität und Vermarktungsstrukturen verwoben sind – und welch tiefgreifende Lösungsansätze im Getreideanbau, der Verarbeitung und Vermarktung erforderlich wären. Die Bedeutung von Machtverhältnissen und der Wert dezentralisierter Strukturen entlang der Wertschöpfungskette wurden deutlich herausgestellt.

Carl Vollenweider ging in seinem Vortrag zunächst darauf ein, welche Ansätze die ökologische Pflanzenzüchtung derzeit verfolgt, um die Vielfalt auf Ackerflächen zu erhöhen. Die bisherigen Entwicklungen in der konventionellen Züchtung haben zur Dominanz weniger homogener Hochleistungs- und Hybridsorten im Anbau geführt: Eine Pflanze einer solchen Sorte ist genetisch identisch mit jeder anderen Pflanze im Feldbestand und noch dazu sind die verschiedenen Sorten untereinander eng verwandt. „Vor dem Hintergrund des Klimawandels kann eine solche Verengung der genetischen Diversität in der Landwirtschaft nur als Hochrisikostrategie bezeichnet werden“, so Carl Vollenweider.

Vielfalt als ganzheitliche Lösung

Als Alternative stellte Carl Vollenweider die nachhaltige Nutzung von genetischer Vielfalt im Getreideanbau vor und zwar am Beispiel der Entwicklung einer breiten Sortenvielfalt und von heterogenen Getreidepopulationen. Die Populationen bestehen aus Pflanzen mit unterschiedlichem Aussehen und Eigenschaften im Feldbestand, worauf ihr höheres Puffer- und Anpassungsvermögen unter schwierigen Anbaubedingungen im Vergleich zu herkömmlichen Sorten beruht. Mit der neuen EU-Bio-Verordnung ist die Vermarktung von Saatgut von Populationen seit dem 1. Januar 2022 legal möglich.

„Da heterogene Populationen nachbaufähig sind und das Saatgut frei zugänglich ist, sehen wir in den Populationen einen ganzheitlichen Lösungsansatz für künftige Herausforderungen“, betonte Carl Vollenweider. Die Ökozüchtung verfolge zudem verstärkt den Ansatz, die Entwicklung heterogener Populationen mit weiteren Strategien zur Erhöhung der Vielfalt, wie der Züchtung für den Mischkulturanbau oder allgemein vielfältigen Anbausystemen, zu kombinieren.

Verbunden mit dem Anbau von heterogenen Populationen stand die Frage, ob die gegenwärtige Praxis der Qualitätsbewertung von Backweizen dem Stand des Wissens und der Praxis entspricht. Nach wie vor gilt die Annahme: „Nur ein hoher Rohproteingehalt garantiert gute Backergebnisse.“ Doch ist das tatsächlich so? Anke Kähler, selbst Bäckermeisterin, stellte in ihrem Vortrag heraus, warum eine Änderung überfällig ist.

Proteinqualität statt Rohproteingehalt

Anke Kähler erläuterte, dass Backqualität nicht mit einem hohen Proteingehalt gleichzusetzen sei. So ließen sich etwa aus Mehlen bestimmter Weizensorten auch mit nur 11 % Rohproteingehalt durchaus Brote mit sehr gutem Brotvolumen (> 660 ml /100 g Mehl) herstellen. Doch vor allem aus Gründen des Klima- und Ressourcenschutzes müsse die Qualität der Weizenproteine stärker gewichtet werden. Die Qualität des Kleberproteins zeige dabei eine ausgeprägtere Sortenabhängigkeit, während der Proteingehalt neben dem ebenfalls genetisch fixierten N-Aneignungsvermögen der Sorte vor allem auch von der verfügbaren Stickstoffmenge abhänge.

„Statt wie bisher den Rohproteingehalt als das entscheidende Bewertungskriterium bei der Getreideannahme in Wert zu setzen, sollte der Fokus verstärkt auf proteinnutzungseffizienten Sorten und Populationen liegen, die backwirksam gute Proteinqualitäten mitbringen“, so Anke Kähler. Der Rohproteingehalt und der verwendete Standardbackversuch, der Rapid-Mix-Test, mit dem vorrangig die erzielbare Volumenausbeute gemessen wird, seien de facto nicht mehr geeignet, sachgerecht einzuschätzen, welche Gebäckqualitäten sich in der Praxis erzielen lassen – zumal sich Herstellungsverfahren grundsätzlich entsprechend der Rohstoffeigenschaften anpassen ließen.

Verbesserte Entlohnung für Erzeuger*innen

Dass sich etwas ändern muss, ist klar: Von einem Euro, den Verbraucher*innen für Brot ausgeben, erhält der landwirtschaftliche Betrieb im Durchschnitt nur sechs bis acht Cent. „Die Entlohnung der Erzeuger*innen“, so Anke Kähler, „muss sich vom Rohproteingehalt lösen.“ Dafür sei es wichtig, dass einerseits Erzeuger*innen die Prozesse der Verarbeitung besser verstehen und andererseits die Verarbeiter*innen ein besseres Verständnis für die agronomischen Prozesse rund um die Erzeugung ihrer Rohstoffe erlangen. Dies würde auch die Voraussetzung schaffen, dass der Einsatz von Bäuerinnen und Bauern für eine klimaangepasste, ressourcenschonendere Landbewirtschaftung und für mehr Biodiversität eine höhere Wertschätzung erfahre..

Für mehr Klimaschutz und als Anpassungsstrategie an den Klimawandel sei die Entwicklung einer praktikablen Neubewertung der Backqualität von Weizen in Richtung Proteinqualität und die Durchsetzung des entwickelten Konzepts am Markt dringend erforderlich. Ebenso vordringlich sei der Aufbau dezentraler, resilienter Versorgungsstrukturen mit kurzen Wertschöpfungsketten, zumal sich durch die handwerkliche Herstellung – im Gegensatz zur zentralisierten, industriellen Produktion – auch aus regional erzeugtem Weizen mit niedrigeren Proteinwerten nachweislich sensorisch hochwertige Brote und Backwaren fertigen lassen.

Biodiversität und dezentralisierte Strukturen

Wenn wir also den Biodiversitätsverlust – besonders im Hinblick auf den Erhalt des Anpassungsvermögens unserer Kulturpflanzen an den Klimawandel – stoppen wollen, brauchen wir mehr Vielfalt auf allen Ebenen: genetische Vielfalt innerhalb und zwischen Sorten, Arten und Ökosystemen sowie vielfältige, dezentralisierte Verarbeitungs- und Vermarktungsstrukturen Wenn die Biodiversitätsstrategie, die gesetzten Klimaziele und die anerkannte Forderung nach resilienten Versorgungsystemen nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben sollen, ist eine Vielzahl konsequenter, politischer Weichenstellungen notwendig. Dazu gehören ein Bundesprogramm zur Förderung der regionalen Wertschöpfung sowie die Einbeziehung aller ökologischen und sozialen Folgekosten der Erzeugung, der Herstellung und des Handels von Lebensmitteln in den Produktpreis bzw. – vice versa – die Honorierung gesellschaftlicher Leistungen der Land- und Lebensmittelwirtschaft.

Anke Kähler, Carl Vollenweider, Frauke Ganswind